K r e a t i v e S p i e l r ä u m e |
Den
folgenden Artikel verfaßte ich für die "Internationale
Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 'erleben und lernen'
". |
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Kreative
Spielräume??
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Nur
Reproduktion... |
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Frei wäre ich nur dann, wenn ich eigene Kompositionen spielen würde, andernfalls muß ich mich konsequenterweise nur mit Reproduktion begnügen. Hinzu kommt, daß ich als Pianist schlechtere Karten habe als etwa eine Geigerin, die offensichtlich mehr Modulationsmöglichkeiten hat und den Ton durch den Bogenkontakt von Anfang bis Ende gestalten kann. Mein Musikinstrument scheint das reproduktive Element noch zu verstärken. Mir bleibt nur die Möglichkeit, eine Taste zu "tippen" und zu hoffen, daß der Hammer im Klavier funktioniert. |
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So
jedenfalls stellt der Laie sich dies vor. Ein rein technischer Prozess...
Vorgegebene Noten, automatischer Ablauf der "Klangerzeugungsmaschine"
- wäre es da nicht zweckmäßig, den Menschen direkt
durch einen Automaten zu ersetzen, um ein gelungenes Kunstwerk möglichst
originalgetreu erklingen zu lassen, ohne es durch technische Mängel
oder die Willkür des angeblichen Interpreten zu entstellen?
In der Tat sind solche Überlegungen schon lange angestellt
und umgesetzt worden. Es gibt sie: die Drehorgeln und Musikroboter.
Moderne Tonstudios schaffen zudem Aufnahmen quasi aus der Retorte,
preisen sie als perfekte Versionen an. Den Spieler hat man "synthetisiert". |
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auch offene Spielräume? |
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Trotz
solcher Vorgaben und Einschränkungen gibt es größere
Spielräume als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ja,
manchmal komme ich mir vor, als ob ich Tote(s) wieder zum Leben
erwecke. Die Gestaltungsmöglichkeiten beginnen eigentlich schon
bei der einzelnen Note, dem einzelnen Ton. |
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Die
Partituren der Klassiker: nur Skizzen... |
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Auch
die Kompositionen der Klassiker bieten mehr Raum für eigenes
Gestalten als zunächst scheint. Eigentlich sind nur dürftige
Chiffren und Notationsbehelfe überliefert. Wie die Stücke
zu Lebzeiten des Komponisten tatsächlich aufgeführt wurden,
kann man heute nur noch vermuten, hat sich doch die Aufführungspraxis
im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Hinzu kommt, daß
manche Komponisten aus Angst vor Raubkopien ihre Werke nicht vollständig
notiert haben und bei jeder Aufführung ein wenig variierten.
Urtextausgaben versprechen zwar aufgrund intensiver Nachforschungen
größtmögliche Authentizität, aber wenn, wie
beispielsweise bei Liszt oder Chopin, mehrere verschiedene handschriftliche
Exemplare von ein und demselben Werk existieren, ist die Frage nach
der einzig richtigen Form schlichtweg nicht zu beantworten. Ein
und dasselbe Werk wird im Grunde nie gleich aufgeführt, sondern
bleibt immer einzigartig, ein unverwechselbares, individuelles Ereignis.
Ein spannendes Moment. |
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Und
die moderne Musik? Die "Toccata" von Jörg Widmann
- ein charakteristisches Beispiel |
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Für
einen der letzten internationalen Klavierwettbewerbe hatte ich ein
modernes Pflichtstück einzustudieren: die von Jörg Widmann
eigens hierfür komponierte "Toccata". Die mit Spannung
erwartete Partitur bot für mich, sicher auch für den interessierten
"Laien", einige Überraschungen. Zwei charakteristische
Zeilen habe ich ausgewählt. Es lohnt sich, sie einmal genauer
zu betrachten. |
Da
finden sich, die "stummen" Töne, ein "angeschlagener
Ellenbogen" - Das muß doch weh tun! - Bezeichnungen wie
"sfffz"(sfozatisissimo!!), "al niente"-Verklingendes,
"lautlos ist weiterzuklopfen", auch Fingerkuppen und Fingernägel
sind einzusetzen. Hoffentlich muß ich meinen Flügel nicht
zerkratzen! Akkorde sind mit "ffff" (fortisisissimo) zu
spielen, d. h. quasi zu hämmern. Vielleicht übe ich das
Stück doch besser auf einem Instrument im Konservatorium ein... |
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Nach
solchen ersten durchaus voreingenommenen Gedanken und Reaktionen
versuche ich mich der Komposition zu nähern: Begleitet von
stumm niedergedrückten Akkorden und "Clustern" (ein
Tonkonglomerat, das etwa mit der ganzen Handfläche zu spielen
ist) soll anfangs in unregelmäßigen Abständen ein
Ton verschieden laut und verschieden schnell angeschlagen werden.
Der Takt wechselt ständig von 5:4 auf 7:8 und 5:16, außerdem
hat jeder Takt eine eigene, vom Metronem festgelegte Tempoangabe.
Ein Anfangsteil, dem trotz dieser minutiösen Festlegungen rechnerisch
nur schwerlich beizukommen ist. |
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Die
stumm niedergedrückten Anfangsakkorde spiegeln zunächst
das sinnliche Erleben des "toccare" (italienisch: "berühren,
schlagen") wider, ohne Anspruch auf eine musikalische Aussage.
der erste hörbare Ton: zaghaft berührt, ungewiss - eine
musikalische Geste in die Stille hinein, gefolgt von einer Pause,
die nicht als rechnerische Zeiteinheit zu sehen ist, sondern als
spannungsgeladenes, beseeltes Intervall zwischen den einzelnen Klangereignissen.
Diese Spannung zwischen musikalischer Bewegung und dem Verharren
gilt es herauszuarbeiten. Das Finale - scheinbar unsinniges, wildes
"Herumschlagen" auf dem Klavier - eine Explosion, ein
Feuerwerk. Die Idee der Toccata wird Realität, durchdringt
den Interpreten. Wie besessen spielt er in rasender Geschwindigkeit
Tonrepetitionen. Selbst als am Ende das Stück quasi gewaltsam
durch das Zuschlagen des Deckels beendet wird, kann er nicht ablassen,
weiter zu klopfen, wie es die Partitur vorgibt. |
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Trotz meiner anfänglichen Distanz gegenüber seiner Komposition berühren mich die ungewohnten, modernen Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten und ich merke, wie ich das Stück eigentlich schon zu lieben beginne. Jedenfalls eröffnet es neue Erfahrungsräume jenseits eingeschliffener Hörvorlieben und Musikgewohnheiten. Bedenkt man, daß Musik bzw. Musikhören zu den großen Freizeit- und Lieblingsbeschäftigungen nicht nur von Jugendlichen zählt (vgl. u. a. Shell-Studie), so bietet moderne Musik - auch für erlebnispädagogische Konzepte - durchaus die Chance, das Spektrum musikalischer Erfahrungs- und Ausdrucksfähigkeit zu erweitern. |
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