K r e a t i v e   S p i e l r ä u m e

 

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Den folgenden Artikel verfaßte ich für die "Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 'erleben und lernen' ".
Er erschien in der Dezember-Ausgabe 2003, e&l/11.Jahrgang, ISSN 0942-4857.
Besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. phil. habil. Hartmuth F. Paffrath für die tatkräftige Unterstützung bei der Realisierung dieses Projektes.
 

 

Kreative Spielräume??

Über künstlerisches Gestalten im Bereich der Musik - eine Gratwanderung          
 von Ingmar Schwindt
 

 

Nur Reproduktion...

Gibt es für Musiker, insbesondere für mich als Klavierspieler, überhaupt Gestaltungsmöglichkeiten, die so oft beschworene künstlerische Freiheit?
Immer öfter zweifle ich daran, angesichts der Vorgaben des Komponisten: den einzeln festgelegten Noten, dem angegebenen Taktmaß, den unerbittlichen Temporichtlinien des Metronoms, den detaillierten Dynamikanweisungen.
Selbst was der "Interpret" zu innerst fühlen muß, hat sich den Bezeichnungen wie "agitato", "mesto" oder "esspressivo" zu unterwerfen - soll so etwas wie Werktreue entstehen.
Auf dem Weg zu möglichst perfektem Spiel versuche ich einerseits, mich solchen Angaben anzunähern. Mein eigener Anteil der Interpretation wird dabei immer geringer und löscht sich im Idealfall aus.

 

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Frei wäre ich nur dann, wenn ich eigene Kompositionen spielen würde, andernfalls muß ich mich konsequenterweise nur mit Reproduktion begnügen. Hinzu kommt, daß ich als Pianist schlechtere Karten habe als etwa eine Geigerin, die offensichtlich mehr Modulationsmöglichkeiten hat und den Ton durch den Bogenkontakt von Anfang bis Ende gestalten kann. Mein Musikinstrument scheint das reproduktive Element noch zu verstärken. Mir bleibt nur die Möglichkeit, eine Taste zu "tippen" und zu hoffen, daß der Hammer im Klavier funktioniert.

So jedenfalls stellt der Laie sich dies vor. Ein rein technischer Prozess... Vorgegebene Noten, automatischer Ablauf der "Klangerzeugungsmaschine" - wäre es da nicht zweckmäßig, den Menschen direkt durch einen Automaten zu ersetzen, um ein gelungenes Kunstwerk möglichst originalgetreu erklingen zu lassen, ohne es durch technische Mängel oder die Willkür des angeblichen Interpreten zu entstellen? In der Tat sind solche Überlegungen schon lange angestellt und umgesetzt worden. Es gibt sie: die Drehorgeln und Musikroboter. Moderne Tonstudios schaffen zudem Aufnahmen quasi aus der Retorte, preisen sie als perfekte Versionen an. Den Spieler hat man "synthetisiert".
 

 

 

... auch offene Spielräume?
 

 

Trotz solcher Vorgaben und Einschränkungen gibt es größere Spielräume als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ja, manchmal komme ich mir vor, als ob ich Tote(s) wieder zum Leben erwecke. Die Gestaltungsmöglichkeiten beginnen eigentlich schon bei der einzelnen Note, dem einzelnen Ton.
 


 
Fast unendlich viele Möglichkeiten, einen einzigen Ton zu spielen...

Das klingt zunächst anmaßend, zugegeben. Aber ich habe durchaus eine Chance, die vorgegebene Mechanik zu "überlisten", das heißt ihre verborgenen Möglichkeiten zu nutzen. So kann ich laute und leise, lange und kurze, spitze, langsam verklingende, nachhallende, gewalttätige oder selbst "stumme" Töne spielen...


 

Die Partituren der Klassiker: nur Skizzen...
 

 

Auch die Kompositionen der Klassiker bieten mehr Raum für eigenes Gestalten als zunächst scheint. Eigentlich sind nur dürftige Chiffren und Notationsbehelfe überliefert. Wie die Stücke zu Lebzeiten des Komponisten tatsächlich aufgeführt wurden, kann man heute nur noch vermuten, hat sich doch die Aufführungspraxis im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Hinzu kommt, daß manche Komponisten aus Angst vor Raubkopien ihre Werke nicht vollständig notiert haben und bei jeder Aufführung ein wenig variierten. Urtextausgaben versprechen zwar aufgrund intensiver Nachforschungen größtmögliche Authentizität, aber wenn, wie beispielsweise bei Liszt oder Chopin, mehrere verschiedene handschriftliche Exemplare von ein und demselben Werk existieren, ist die Frage nach der einzig richtigen Form schlichtweg nicht zu beantworten. Ein und dasselbe Werk wird im Grunde nie gleich aufgeführt, sondern bleibt immer einzigartig, ein unverwechselbares, individuelles Ereignis. Ein spannendes Moment.
 

 

 

Und die moderne Musik? Die "Toccata" von Jörg Widmann - ein charakteristisches Beispiel
 

Für einen der letzten internationalen Klavierwettbewerbe hatte ich ein modernes Pflichtstück einzustudieren: die von Jörg Widmann eigens hierfür komponierte "Toccata". Die mit Spannung erwartete Partitur bot für mich, sicher auch für den interessierten "Laien", einige Überraschungen. Zwei charakteristische Zeilen habe ich ausgewählt. Es lohnt sich, sie einmal genauer zu betrachten.
 

 
 

Da finden sich, die "stummen" Töne, ein "angeschlagener Ellenbogen" - Das muß doch weh tun! - Bezeichnungen wie "sfffz"(sfozatisissimo!!), "al niente"-Verklingendes, "lautlos ist weiterzuklopfen", auch Fingerkuppen und Fingernägel sind einzusetzen. Hoffentlich muß ich meinen Flügel nicht zerkratzen! Akkorde sind mit "ffff" (fortisisissimo) zu spielen, d. h. quasi zu hämmern. Vielleicht übe ich das Stück doch besser auf einem Instrument im Konservatorium ein...


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Nach solchen ersten durchaus voreingenommenen Gedanken und Reaktionen versuche ich mich der Komposition zu nähern: Begleitet von stumm niedergedrückten Akkorden und "Clustern" (ein Tonkonglomerat, das etwa mit der ganzen Handfläche zu spielen ist) soll anfangs in unregelmäßigen Abständen ein Ton verschieden laut und verschieden schnell angeschlagen werden. Der Takt wechselt ständig von 5:4 auf 7:8 und 5:16, außerdem hat jeder Takt eine eigene, vom Metronem festgelegte Tempoangabe. Ein Anfangsteil, dem trotz dieser minutiösen Festlegungen rechnerisch nur schwerlich beizukommen ist.
Dann treten einige wenige Töne zögernd hinzu und verdichten sich in durchaus reizvollen "Flagolett-Klangeffekten" bis in der Mitte plötzlich rasende Achteltriolen losbrechen, die erst ziellos den ganzen Tonumfang des Klaviers ausfüllen, sich aber immer mehr zusammenfinden, bis ein fast tonales Thema erklingt. Alles jedoch sehr schnell mit der Bezeichnung "fieberhaft, manisch".
Das Thema bricht in schwindelerregender Geschwindigkeit auseinander und hektisch klettern die Achteltriolen in die höchsten Höhen des Diskants des Klaviers empor. Mit einem lauten Knall - duch heftiges Zuschlagen des Deckels! - enden die Töne und der Interpret soll im gleichen Tempo auf dem Holz weiterklopfen, ja am Ende noch "lautlos weiterklopfen" - ein Paradoxon!
Was hat Jörg Widmann sich wohl bei seiner Komposition gedacht? Was wollte er mit seiner Toccata ausdrücken?

 

 

 

 

 

 

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Die stumm niedergedrückten Anfangsakkorde spiegeln zunächst das sinnliche Erleben des "toccare" (italienisch: "berühren, schlagen") wider, ohne Anspruch auf eine musikalische Aussage. der erste hörbare Ton: zaghaft berührt, ungewiss - eine musikalische Geste in die Stille hinein, gefolgt von einer Pause, die nicht als rechnerische Zeiteinheit zu sehen ist, sondern als spannungsgeladenes, beseeltes Intervall zwischen den einzelnen Klangereignissen. Diese Spannung zwischen musikalischer Bewegung und dem Verharren gilt es herauszuarbeiten. Das Finale - scheinbar unsinniges, wildes "Herumschlagen" auf dem Klavier - eine Explosion, ein Feuerwerk. Die Idee der Toccata wird Realität, durchdringt den Interpreten. Wie besessen spielt er in rasender Geschwindigkeit Tonrepetitionen. Selbst als am Ende das Stück quasi gewaltsam durch das Zuschlagen des Deckels beendet wird, kann er nicht ablassen, weiter zu klopfen, wie es die Partitur vorgibt.
Indem ich die Toccata spiele und erlebe, ergreift mich die suggestive Kraft des Werkes. Ich stehe wie unter Strom, vibriere und zittere - auch noch nach dem Ende des Stückes. Widmann hat das mit den noch "lautlos weiterklopfenden" Armen grandios ausgedrückt, obwohl solche Gesten mir wie auch dem überraschten Konzertbesucher anfangs völlig fremd und unverständlich erschienen. Aber gerade durch Stücke wie Jörg Widmanns Toccata können Annäherung, Offenheit und Interesse an zeitgenössischem musikalischen Gestalten entstehen.

 

Trotz meiner anfänglichen Distanz gegenüber seiner Komposition berühren mich die ungewohnten, modernen Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten und ich merke, wie ich das Stück eigentlich schon zu lieben beginne. Jedenfalls eröffnet es neue Erfahrungsräume jenseits eingeschliffener Hörvorlieben und Musikgewohnheiten. Bedenkt man, daß Musik bzw. Musikhören zu den großen Freizeit- und Lieblingsbeschäftigungen nicht nur von Jugendlichen zählt (vgl. u. a. Shell-Studie), so bietet moderne Musik - auch für erlebnispädagogische Konzepte - durchaus die Chance, das Spektrum musikalischer Erfahrungs- und Ausdrucksfähigkeit zu erweitern.